Cristina und ihre Attrappe
Herta Müller ist wohl die bekannteste der in dieser Saison präsentierten Autorinnen und Autoren, erhielt sie doch 2009 den Literaturnobelpreis. Die Lesereise hat nun nicht eines ihrer bekannteren Werke gewählt, sondern ihr Buch Cristina und ihre Attrappe, eine persönliche Schilderung ihrer Erfahrungen im Ceaucescu-Regime mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate, dessen Wirken und Mentalität auch dreissig Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs immer noch präsent ist.
Cristina und ihre Attrappe ist ein eindrückliches Text, was Menschen, die sich gegen eine Diktatur stellen, erleben müssen.
Die Schauspielerin Silvia Jost und die Geigerin Andrea Kirchhofer, zum ersten Mal zu Gast bei der Lesereise gestalten diesen Abend.
«Man brauchte keine Vorladung, fischte mich einfach von der Strasse ab. Ich war auf dem Weg zur Friseuse und wurde von einem Polizisten durch eine schmale Blechtür ins Souterrain eines Studentenwohnheims gebracht. Drei Männer in Zivil sassen an einem Tisch. Ein kleiner Knochiger war der Chef. Er verlangte meinen Ausweis, sagte: »Na, du Hure, sehen wir uns schon wieder.« Ich hatte ihn noch nie gesehen. Mit acht arabischen Studenten sollte ich Sex haben und mich mit Strumpfhosen und Kosmetika bezahlen lassen. Ich kannte keinen einzigen arabischen Studenten. Aber er meinte, als ich das sagte: »Wenn wir wollen, finden wir auch zwanzig Araber als Zeugen. Wirst sehen, es wird ein exzellenter Prozess.
Herta Müller legt hier eine bedrückende Darstellung von der Infiltration einer Gesellschaft nach der Diktatur, die bis heute nicht von ihren Peinigern befreit werden kann vor. Erst zehn Jahre nach Einrichtung des rumänischen Pendants zur «Gauck-Behörde» und zahlreichen mühsamen Anfragen erhält Herta Müller endlich Zugang zu ihrer 900-seitigen »Securitate-Akte«, die jedoch in den vergangenen Jahren nicht nur manipuliert, sondern regelrecht entstellt wurde. Informationen über die Drangsalierungen, mit denen sie in den siebziger Jahren zur Zusammenarbeit mit der Securitate gezwungen werden sollte, sind in den gefälschten Unterlagen über »Cristina« verschwunden.
Herta Müller schildert eindrücklich, was sie wirklich erlebt hat und wie sie und ihre Freunde auch heute noch bei Besuchen in Rumänien vom SRI, dem heutigen rumänischen Geheimdienst, überwacht und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.
Herta Müller
Herta Müller, * 17. August 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf, Rumänien, studierte von 1973 bis 1976 deutsche und rumänische Philologie in Temeswar.
Nach ihrem Studium arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Als sie sich weigerte, für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu arbeiten, wurde sie erst schikaniert, verleumdet und schliesslich entlassen. Sie arbeitete dann als Lehrerin in verschiedenen Schulen oder Kindergärten und gab privaten Deutschunterricht. Ihr erstes Buch »Niederungen« wurde in Rumänien 1982 nach vier Jahren Verzögerung nur zensiert veröffentlicht. Die Originalfassung erschien 1984 in Deutschland und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Aufgrund ihrer Weigerung, mit der Securitate zu kooperieren, konnte Herta Müller in Rumänien nicht mehr veröffentlichen und war fortwährend Verhören, Hausdurchsuchungen und Bedrohungen durch die Securitate ausgesetzt. 1987 entschied sie sich, zusammen mit ihrem damaligen Ehemann, nach Deutschland zu übersiedeln.
2009 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. In ihren Veröffentlichungen setzt sie sich akribisch und unbeirrt mit den Folgen der rumämischen Diktatur auseinander, deren Spuren auch heute noch spürbar sind.