Der Nabel der Welt & Ich muss Deutschland

Catalin Dorian Florescu kam Anfangs der Achzigerjahre des vergangene Jahrhunderts als Kind mit seinen Eltern aus dem damals noch unter kommunistischer Herrschaft stehenden Rumänien in die Schweiz. Wie so viele Autorinnen und Autoren ist die Frage nach Herkunft und Heimat drängend. Die beiden bei der Lesereise präsentierten Erzählungen stehen exemplarisch dafür

Der Schauspieler Christoph Keller, in der vergangenen Saison Michael Fehrs Erzählung Simeliberg gestaltend und der Gitarist Dimitri Howald (2022/23 bei Simone Lapperts Wurfschatten musikalisch eindrücklich präsent) sind mit diesen beiden Erzählungen zu Gast im Theater Delly.

«Die Schweiz fiel uns zu wie ein Lotteriegewinn. Vater hatte einen guten Riecher. Vor einem bescheidenen Hotel in Zürich, nach mehreren Tagen Fahrt durch Europa und bereit für die Weiterreise, fragte Vater einen feinen Herrn auf der Straße um Rat. Dreißig Sekunden Inspiration haben gereicht gegen die Verzweiflung. Es war wie beim Fußball, wenn man mit einem Tor in der 90. Minute alles klar macht. Ob der feine Herr Gott war, wissen wir nicht. Das einzige, an das wir uns erinnern, ist, dass er eine dunkle Limousine fuhr. (…)
Es hätte Patagonien sein können. Dass es aber die Schweiz wurde, freut uns heute noch ganz besonders. <Der Nabel der Welt, Junge>, sagt Vater, <der Nabel der Welt>. Wir haben eben Glück gehabt. Lotterieheimat.»
Aus: Der Nabel der Welt

«Der halbe Wohnblock ist ausgeflogen, lebt im Ausland, putzt österreichische Hintern, reinigt deutsche Zahnprothesen, erntet spanische Erdbeeren. Die Hände der Menschen von hier haben viele Körper gestützt, gewaschen, zum Schlafen gebettet. In vielen Erden gewühlt. Von denen, die ich aus der Kindheit kenne, sind fast alle weg.»
Aus: Ich muss Deutschland

«Der Nabel der Welt» ist Catalin Dorian Florescus erster Erzählband, erschienen 2017. Er vereinigt neun Erzählungen aus sechzehn Jahren, die vorwiegend das Thema Emigration behandeln. Sie sind teils autobiografisch wie «Der Nabel der Welt» – Florescu erzählt hier von der Ausreise seiner Familie aus Rumänien, von dem eher zufälligen Entscheid, in Zürich sesshaft zu werden und von den Erfahrungen in der neuen Heimat.. Oder er schildert, was die Migration mit den Menschen macht.
 
In «Ich muss Deutschland» erzählt Florescu als Ich-Erzähler aus dem Leben eines Zollbeamten, dessen Sohn in Grossbritannien lebt und der nun in seiner Arbeit mit den Flüchtenden konfrontiert ist, die nach Deutschland wollen und wie sein Sohn von einem besseren Leben träumen.
 
In anderen Geschichten erzählt er, wie aussichts- und hoffnungslos die Welt der Menschen ist, aus denen die Flüchtenden stammen und wie sich auch ihre Herkunftsländer durch die Emigration verändern.

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Catalin Dorian Florescu
Catalin Dorian Florescu wurde am 6. April 1967 in Timisoara, Rumänien, geboren. 1976 reiste er mit seinem Vater aus in die USA und nach Italien, kehrte aber nach acht Monaten wieder zurück. Im Jahr 1982 erneute Ausreise mit seinen Eltern in den Westen, seitdem lebt er in der Schweiz.

Er studierte Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich und arbeitete von 1995 bis 2001 als Psychotherapeut in einem Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige.

Seit 2001 lebt als er freier Schriftsteller mit wenigen Unterbrüchen in Zürich. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 2011 den Schweizer Buchpreis für den Roman «Jakob beschließt zu lieben».

Seit 2021 ist er zudem wieder als Psychologe tätig.
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